Wirtschaftliche Gefühle

Psychologie spielt bei ökonomischen Entscheidungen eine größere Rolle als wir meinen. Der Verhaltenssökonom Mirco Tonin erforscht, wie wir uns ohne Zwang lenken lassen

Wie können Politik und Wirtschaft das Verhalten von Menschen ohne Zwang in eine bestimmte Richtung lenken? Es war die Frage, die Mirco Tonin jüngst im Rahmen eines von ihm organisierten Runden Tisches der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Uni Bozen internationalen Experten stellte – und dabei Einblick in eine spannende Disziplin bot. Dabei ist Professor Tonin selbst Verhaltensökonom. Zeit also, um mit ihm über die weniger rationale Seite des homo oeconomicus zu sprechen.

Verhaltensökonomie – was kann man sich darunter vorstellen?

Verhaltensökonomie ist mittlerweile ein etablierter Zweig der Wirtschaftswissenschaften. Es geht darum, in den Modelle unseres Verhaltens psychologische Parameter zu berücksichtigen, die etwas realistischer sind als jene in Vergangenheit. Lange Zeit hat man sich in den Wirtschaftswissenschaften ja darauf verlassen, dass der Mensch Informationen in mehr oder weniger korrekter dazu Weise nutzt, um Entscheidungen zu treffen, die seinen Zielen entsprechen. Wir beobachten aber immer wieder, dass es Menschen gibt, die oft gar nicht fähig sind Informationen richtig aufzunehmen und zu verarbeiten. Oder sie verstehen die Informationen, sind aber nicht in der Lage, diese in für sie gewinnbringender Weise in die eigenen Prozesse der Entscheidungsfindung einfließen zu lassen. 

Weil die Ziele nicht klar formuliert sind?
Ja, oder weil manche Ziele sich gar widersprechen. Man startet zum Beispiel mit schönen Vorsätzen ins neue Jahr. Man nimmt sich etwa vor, mehr Sport zu betreiben und wöchentlich ins Fitnessstudio zu gehen. Doch schon einen Monat später, zeichnet sich ab, dass das Vorhaben nicht umgesetzt wird. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen Absicht und Umsetzung. Wenn man will, ließe sich von zwei Seelen in einer Brust sprechen: Die eine, die langfristig etwas verbessern und erreichen will, die andere, die faul ist und den Status quo liebt und schlussendlich siegt. Wir haben es also mit einer komplizierten Verhaltensweisen zu tun, die es zu berücksichtigen gilt, wenn man etwa als öffentliche Verwaltung ein bestimmtes Verhalten der Bürger fördern will. Nicht alles funktioniert so, wie man die Dinge am Reißbrett entwirft. Verhaltensökonomie ist auch das: Ein unentwegtes Ausprobieren und Testen wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen, um zu verstehen, was funktioniert, was greift. 

Weil die Realität zu komplex ist?
Richtig und weil es um psychologische Mechanismen geht, die variieren. Stichwort Altersvorsorge. Viele Menschen kümmern sich zu wenig darum. Wie kann man sie also dazu bringen, mehr in ihre Altersvorsorge zu investieren? Oft ist das nicht ja möglich, weil sie mit ihren Löhnen gar nicht richtig über die Runden kommen. Man kann zwar steuerliche Anreize schaffen, doch oft genügt das nicht. So wie es nicht mehr genügt, die  Menschen nur aufzufordern in dem Sinne dass man sagt: „Ihr müsst jetzt ein paar Prozent eures Gehalts in eine Zusatzrente investieren!“ 

Und was schlägt der Verhaltensökonom stattdessen vor?
Wer vorsorgen will, kann einen gewissen Prozentsatz seiner nächsten Gehaltserhöhung in eine Zusatzrente einzahlen. Das ist eine kleine Verschiebung des Ansatzes und vermittelt nicht das Gefühl eines sofortigen Geldverlustes Leider müssen wir heutzutage auf Gehaltserhöhungen lange warten. Es fällt Menschen grundsätzlich leichter, sich auf einen Deal einzulassen, der erst morgen zum Tragen kommt. Den Menschen etwas aufzunötigen selbst wenn es zu ihrem Nutzen ist, schafft wenig Akzeptanz und ist paternalistisch; so etwas sollte Vergangenheit angehören. Es hat sich gezeigt, dass der emotionale Aspekt in vielen Bereichen eine große Rolle spielt. 

Die Gefühle der Menschen hatten in der Ökonomie nichts zu suchen? 
Nein, Gefühle wurden vor nicht allzu langer Zeit ausschließlich der Psychologie zugeschlagen. Das ist mit der Verhaltensökonomie anders geworden. Ich habe zum Beispiel  untersucht, welches Verhältnis es zwischen dem amerikanischen Börsenindex Dow Jones und tödlichen Verkehrsunfällen in den USA gibt. Es hat sich gezeigt, dass immer dann, wenn der Dow Jones eine Talfahrten erleidet, die Zahl der tödlichen Unfälle stieg – und zwar zeitgleich mit der Öffnung der Börse um 9.30 Uhr. Betroffen sind vor allem Fahrer von größeren und teureren Autos. Der Umstand zeigt, wie der Börsenmarkt seine Teilnehmer beeinflusst und welche Rolle Emotionen dabei spielen. Wir Verhaltensökonomen versuchen uns zwar in die Köpfe der Menschen hineinzuversetzen, nicht immer aber läuft das menschliche Verhalten nach logischen Kriterien ab. Menschen sind keine Algorithmen und haben ihre eigenen Entscheidungsmechanismen. 

Erkenntnisse der Verhaltensökonomie dürften Unternehmen oft Gold wert sein.
Tatsächlich sind Verhaltensökonome auch im Bereich des Marketings tätig. Im Marketingbereich sind Experimente ja an der Tagesordnung, siehe Facebook, das ja immer wieder auch an seinem Online-Erscheinungsbild herum schraubt, um das Produkt zu optimieren und die Klickzahlen zu erhöhen. Marketingexperten kennen die Gesetzmäßigkeiten der Verkaufspsychologie schon lange. Jedes Kaufhaus spielt auf seinen Preisschildern mit der psychologischen 99-Cent-Zahl. Klassischerweise beschäftigen sich Verhaltensökonome aber mit öffentlicher Politik. 

Nützen Politiker das Know How der Verhaltensökonomie?
Das hängt vom Anwendungsgebiet ab. In England hat man noch unter Theresa Mays Vorgänger, David Cameron, eine Dienststelle eingerichtet, die die Entscheidungen der Regierung unter verhaltensökonomischen Gesichtspunkten beleuchtet. Diese Einrichtung hat zahlreiche Vorschläge gemacht, die auch umgesetzt wurden. Das Beispiel hat Schule gemacht und man ähnliche Dienststellen in Australien oder Amerika installiert. Auch die österreichische Regierung hat das Modell nun übernommen, „Kompetenzzentrum Verhaltensökonomie Insight Austria“ nennt es sich. Sein Direktor, Martin Kocher, hat sich jüngst am Runden Tisch beteiligt, den wir im Rahmen unserer Economic Talks als Fakultät für Wirtschaftswissenschaften auf dem Campus der Universität Bozen organisiert haben. Die Frage war: Wie können Politik und Wirtschaft das Verhalten von Menschen ohne Zwang in eine bestimmte Richtung lenken? Es gäbe vieles zu untersuchen. 

Zum Beispiel?
Ich bin mir nicht sicher, ob zum Beispiel alle Förderungen auch ihr Ziel erreichen. Stichwort Mietbeihilfen. Sie sollen natürlich den Mietern helfen, ihre Mieten zu bezahlen. Wir wissen aber auch, dass die Mietbeihilfen sich ungünstig auf den Mietpreis auswirken und den Markt beeinflussen: Letztlich kommen Mietbeihilfen immer auch Vermietern und damit Immobilienbesitzern zugute. Man täte gut daran, hier alternative Methoden der Unterstützung anzudenken. Oder anderes Thema: die Sanität. Warum setzen sich die Experten nicht auch mit uns zusammen? Wir haben Ideen, kennen viele Modelle in anderen Ländern und wir wissen, wie wir die Programme strukturieren müssen, um den Erfolg der Maßnahmen auch genau zu messen. Denn nicht jede Maßnahme greift so, wie ausgedacht. Einer der Gründe, warum ich diese Veranstaltung organisiert habe, war ja auch der, die lokalen Politiker für diese Art der verhaltensökonomischen Hilfestellung zu sensibilisieren. 

Sie sprechen mit lokalen Entscheidungsträgern?
Gewiss. Oft fällt mir auf, dass es einen gewissen Widerstand gegenüber Neuem gibt, gegenüber Wandel. Ich höre dann zuweilen, dass dies und jenes nicht so funktioniert habe, wie man sich das vorgestellt hatte. Normalerweise würde man also hergehen und getroffene politische Maßnahmen ändern oder optimieren. Aber man scheint hierzulande eine gewisse Angst vor einem möglichen medialen Wirbel und Schlagzeilen wie „Gescheiterte Politik“ zu haben. Das ist natürlich Blödsinn. Jeder Entscheidungsträger, der beschließt, eine bestimmte Maßnahme auszuprobieren, wird diese ändern müssen, wenn sie nicht funktioniert. 

Scheitern kommt nicht gut an.
Scheitern heißt lernen. In Ländern wie den USA gibt es so etwas wie eine Kultur des Scheiterns, insofern als dass damit ein Lernprozess einher geht. Da können wir uns ruhig etwas abschauen. Aber bestimmte Maßnahmen genau zu analysieren, braucht man Daten. Ich würde mir wünschen, dass sich die Institutionen hierzulande hinsichtlich ihres Datenmaterials mehr austauschen. Ich spreche natürlich von anonymisierten Daten und Zahlen, die uns helfen, genauere Untersuchungen zu machen. Man könnte Studien machen, die nicht nur Südtirol interessant sein könnten, sondern darüber hinaus. In Skandinavien etwa machen Forscher aus aller Welt sehr interessante Studien, weil sie von den Behörden im Gegensatz zu anderen Ländern viele Daten zur Verfügung gestellt bekommen. Das kommt der dortigen Politik sehr zugute, denn man weiß sehr genau, welche Maßnahmen welche Auswirkungen haben. Ein Gewinn für alle. 

Mit der Finanzkrise von 2008 und der darauf folgenden weltweiten Wirtschaftskrise, die von den Ökonomen so nicht vorhergesehen war, gab es gegenüber Ihrer Zunft so etwas wie einen Vertrauensverlust. Wettgemacht?
Die Frage der englischen Königin an die Ökonomen ihres Landes, warum diese denn die Finanzkrise nicht vorausgesehen haben, ist schon etwas erstaunlich. Denn es waren Ökonomen, die im Vorfeld durchaus gewarnt hatten. Aber solange alles gut geht will niemand warnende Stimmen hören. Es ließe sich auch fragen: Warum hat niemand zugehört? Die Finanzkrise wurde hauptsächlich von den Akteuren am Finanzmarkt wie den Banken, heraufbeschworen, teilweise war sie aber auch Frucht eines Kontrollverlustes der regulierenden Behörden. 

Aktuell warnen Ökonomen vor der angepeilten Pensionsreform der italienischen Regierung.
Wem gefällt es nicht, fr üher in Pension  gehen zu können? Das bringt Wählerstimmen – aber keine solide Pensionspolitik mit sich. In einigen Jahren, wenn man tatsächlich nicht mehr umhin kommt,  eine effektive Pensionsreform anzugehen, weil das System sonst kollabiert, wird es  heißen: Ja, warum habt ihr denn nichts gesagt? Wir führen eine seltsame Diskussion über das Wie der Kuchenverteilung und sprechen wenig darüber, wie man diesen Kuchen vergrößert. Das dramatische Problem Italiens liegt im dürftigen Wachstum der Produktivität. Wir haben es mit einer chronischen Stagnation zu tun. Die geplante Pensionsreform und  die Bürger-Grundsicherung tragen nicht dazu bei die Produktivität zu erhöhen – das Gegenteil ist der Fall. Wir befinden uns ökonomisch gesehen in einer gefährlichen Spirale des Verteilungskampfes, der wirkliche Reformen verunmöglicht.

Interview: Markus Larcher – ff – Das Südtiroler Wochenmagazin 03/01/2019

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